RuhmsuchtDAS ONLINE - MAGAZIN IM INTERNETBY DIANA SCHIECK / ALLGEMEIN, BERLINER GESICHTER, STADTGEFÜHL / 22. MAI 2015 MAN WIRD NIE FERTIG! DER MODELLBAHNVEREIN.Ist jemand von euch schon mal die Seestraße entlang gelaufen? Also wirklich die ganze Seestraße entlang? Man hat das Gefühl, dass man aus der Tram aus- und ins Niemandsland einsteigt. Wir laufen und laufen. Vorbei an Alkoholikern auf Parkbänken und schimpfenden Omis. Nachdem wir sogar dem Urnenfriedhof „Hi!“ gesagt haben, sehen wir langsam unser Ziel: ein großes Gebäude voller Technikräume der Telekom. Die gesamte obere Etage soll dem Pro Sport Modelleisenbahnverein Berlins gehören. Ein Lichtschalter, der zu einer Klingel umfunktioniert wurde, hängt, runtergelassen an einem Kabel, im Innenhof des alten Gebäudes. Wir werden erwartet! Halt Stopp! Den Dude_ttes von Ruhmsucht fällt gerade nichts Besseres ein als den Modellbahnverein zu interviewen?? Kann schon sein. Wenn du also keine Lust hast, dich einen Artikel lang auf die Welt der Schienen und Miniaturwelten einzulassen, dann solltest du jetzt den Tab schließen. Natürlich sind wir während unseres Interviews auf nicht ganz unerwartete Klischees gestoßen. Allerdings haben wir auch ein paar unglaublich nette und witzige Menschlein getroffen, welche uns an der Hand durch die Welt der Modelleisenbahnen und ebenso durch fast philosophische Gesellschaftskritiken führten.
Ab Minute 5:30 sieht man unsere Anlage
Ab Minute 5:19 sieht man unsere Anlage
Besuch von der Papageno-GrundschuleAusflug der Jül c,a und b am 16.04.2017 bei der Modellbahnabteilung im Pro Sport 24 Berlin e.V.
Aber zunächst rein ins Gebäude. Drei Etagen weiter oben werden wir von Andreas empfangen. Vor uns erstreckt sich eine Halle mit 80 m² Fläche. Bäume, Gebirge, Seen, Kirchen, Schulen und hunderte Minimenschen lassen einen ersten Blick in detailverliebte Leidenschaft werfen. Es gibt sogar einen Blitzer, der jedes zehnte Auto blitzt, welches dann bei der Polizeikontrolle anhalten muss. Mit einem andächtigen „Whohoo“ schlendern Arkadij und ich Andreas hinterher. Er führt uns in einen kleinen Raum, der direkt an die Modellbahnhalle anschließt. Der Geruch von Bockwürsten und altem Holz liegt in der Luft. Lange Bänke, eine Kaffeemaschine und fünf ältere Herren, die sich angeregt unterhalten, zieren den Raum. Ein wenig erinnert mich die Szene an den Kegelverein aus meinem Heimatdorf *good old times*. Anfangs werden wir etwas kritisch beäugt. Immerhin liegt der Altersdurchschnitt des Vereins bei 62 Jahren und so junges Gesindel wie wir verirrt sich selten hierher.Unser ältestes Mitglied ist 86 Jahre alt. Es geht also relativ ruhig zu.Nach einer kurzen Vorstellungsrunde und dem Versprechen, dass wir wirklich nicht von RTL sind, geht’s auf zum Rundgang. Dass dieser Rundgang eine dreiviertel Stunde dauert und wir eigentlich nur eine Stunde für das Interview eingeplant haben, versinnbildlicht ungefähr die Vorführfreude der Menschen hier, uns auch jeden noch so kleinen Zipfel zu zeigen. Aber es macht Spaß, wirklich! Andreas zeigt uns Schattenbahnhöfe (das sind die
Bahnhöfe unter der Oberfläche), erklärt Szenen, macht uns mit dem Staubsaugerzug bekannt und haucht den Zügen bei einer Probefahrt Leben in die Triebwerke. Ein Zug braucht für eine große Runde immerhin 35 Minuten Fahrtzeit. Mit viel Verständnis für unsere Anfängerfragen zur Lokomotivtechnik und meinem wirklich ständigen „Oh wie cool!“, welches bei gefühlt jedem gezeigten Minimenschen aus mir glitt und mich selbst beim Anhören der Tonaufnahmen nach dem Interview zum mittelstarken Ausrasten gebracht hat. Doch diese vielen kleinen Dinge, die in Stunden, ach was, tagelanger Kleinstarbeit zusammengebastelt wurden, haben einfach ein ehrfürchtiges „Oh wie cool!“ verdient. Bis zu 60 Züge können gleichzeitig die Gleise entlang fahren. Es werden Szenen an Bahnhöfen, auf Marktplätzen, bei Bergwanderungen oder im Biergarten nachgestellt. Dabei wird darauf geachtet, dass leere Flaschen (welche eine Größe von circa zehn Millimetern haben) keine Kronkorken mehr haben. Die Nuance der Farbe an den Häusern ist so wichtig, dass sie zu fettem Beef zwischen den Mitgliedern führen kann.Diese Details führen teilweise zu den heftigsten Diskussionen!Die Modellbahn ist, allein schon finanziell, heute kein Spielzeug unter dem Weihnachtsbaum mehr. Wir haben uns durch Foren geklickt und sind über die hohen Preise ziemlich erschrocken. Ein einzelner Baum kostet ab 25€ aufwärts. Einen Gleisbesetzmelder könnt ihr ab 150€ käuflich erwerben und die Loks fangen erst bei 120€ an und gehen bis in den vierstelligen Bereich. Auch der monatliche Beitrag von 20€ ist für jüngere Modelleisenbahnfreund_innen oft schwer aufzubringen. Monatlich kauft der Verein für durchschnittlich 1000€ ein.„Die Kinder sind heute so mit Spielzeug ausgestattet, dass sie ganz schnell die Lust verlieren, wenn man drei Gleise zusammensteckt und die Bahn im Kreis fahren lässt. Die Leute arbeiten zwar heute weniger, aber haben auch weniger Zeit. Es wird mehr verreist, am Wochenende gibt es öfter Veranstaltungen. Das ist mehr als in meiner Kindheit. Ich
bin Baujahr 60. Da wurde das Farbfernsehen erfunden. Es gab Telefone mit Wählscheibe. An Technik gab es eigentlich nichts außer elektrische Eisenbahnen. Vielleicht bin ich auch nur durch Ermangelung anderer Dinge zu dieser gekommen. Mit meinem 9. Lebensjahr habe ich meine erste Eisenbahn bekommen und seitdem damit, zumindest im Winter, meine Freizeit verbracht“.Vielleicht denken jetzt die Hobbysoziologen-innen unter euch: Die Digitalisierung und Beschleunigung unserer Gesellschaft in Hartmus Rosas Theorie des Beschleunigungs-Totalitarismus ist sogar bis zur Seestraße 82 vorgedrungen. Ja, das dacht‘ ich mir nämlich auch. Magnifique!Den Modellbahnverein gibt es mittlerweile seit August 1966. Seitdem wurde ihm Liebe und Leid, Euphorie und Unmut, Zeit und Raum gegeben. Eines der Ursprungsmitglieder ist bis heute dabei. Das sind fast 50 Jahre Modellbahnrausch. Hossa! Apropos Zeit und Raum. Die Mitgliederversammlung findet jeden Dienstag und Donnerstag von 18-22.00 statt. Allerdings ist der Raum für alle Mitglieder rund um die Uhr – und jeden Tag in der Woche – geöffnet.
Für viele ist es ein Ausgleich nach der Arbeit oder für Rentner welche zu Hause genug von ihren Frauen haben.Hihi, da haben wir ja endlich unser Klischee. Wieso manche Vereine als Männer-Safe-Space betrachtet werden, ist mir allerdings nach wie vor noch nicht richtig klar. Hat Mutti die Jungs damals schon nicht an ihrer – huch! – Lok spielen lassen und somit Frauen als Feindbild der Modelleisenbahner geschaffen?Ist ja mal Quatsch!,sagt das Grüppchen, welches sich bei unserer Ankunft leise aus dem Kegelraum geschlichen und nun wieder dazugesellt hat.„Frauen sind eher gestalterisch unterwegs. Ich weiß nicht, ob die sich nicht trauen. Denn Frauen sind ja bei den Fahrtagen dabei. Könnte mir vorstellen, dass die eine oder andere hier gestalterisch was machen könnte. Aber es besteht da kein Interesse. Aus der Historie ist Modelleisenbahn ein technisches Spielzeug gewesen. War immer eine Jungsdomäne. Heute ist das nicht mehr so. Die Jugend interessiert sich nicht mehr für diesen technischen Teil. Dabei ist eigentlich für jeden was dabei. Da steckt ein Haufen Arbeit dahinter. Wenn eine Hausfrau die erste Sahnetorte bäckt, brauch sie auch drei, vier Anläufe bis die schmeckt. Das liegt an der Natur der Sache“.Liebe Frauen, traut euch! Nur Mut. Weg mit dem Backbuch, Lockenwickler raus und hopp hopp zum Modellbahnverein! Natürlich ist der Erklärungsversuch, warum Modellbahn eine Männerdomäne ist, nicht durch die politische Korrekturpresse des Vereins gegangen. Warum sollte er auch? War ja schon immer so. Wahrscheinlich ist die geringe Repräsentanz der Frauen ein Wechselspiel aus
Gewohnheit und alter Schule. Ein Altersdurchschnitt von 62 Jahren spricht auch irgendwie für sich.„Wäre Modellbahnbauen heute noch so gefragt, würde das Geschlecht sicherlich keine Rolle mehr spielen. Wenn bei unseren Fahrtagen die Kinder die Züge analog selbst steuern können, erleuchten Jungen- wie Mädchenaugen“.Unsere Augen erleuchteten ebenfalls. Und zwar nachdem wir unten den Beratungsschwerpunkte, welche auf der Homepage des Vereins zu finden sind, den Punkt entdeckten: „Was sage ich meiner „Lebensabschnittsgefährtin“, wie lange darf ich bleiben?“Hoppsala.„Akzeptanz ist meistens in Partnerschaften gegeben. Aber es kostet alles total viel Geld – wenn man sich ne zweite Lok für 500€ im Monat geleistet hat, trägt man das nicht unbedingt raus“.Ihr Schlingel…„So ‚Schatz, der ist doch neu!‘ Und Schatz sagt dann: „NEIIN! Die hab ich schon jaaahrelang!‘ Bei den meisten ist‘s nicht nötig, das zu verheimlichen. Eher witzig gedacht oder für Leute, die es nicht so einfach zu Hause haben.“Ich wäre auch stinkig auf Schatz, wenn er mir wieder eine neue Lok in die Vitrine (make love, not war), anstatt die Zutaten für meine Sahnetorte in den Kühlschrank, stellt.Eigentlich wollen wir den Modellbahnverein gar nicht als einen frauenfeindlichen, alten Eberstall vorstellen. Das Konfuse an der ganzen Sache ist, dass wir uns in den drei Stunden, in denen wir bei ihnen waren, echt wohl gefühlt haben. Die Jungs waren unglaublich nett und wissbegierig. Es gab sogar gratis Cola! Sie gewährten uns auf ihre aufrichtige und witzige Art einen kurzen (dreistündigen) Einblick in ihre Welt.„Ich bin immer wieder fasziniert, wie erwachsene Leute mit feuchten Augen da sitzen und ihre Züge verfolgen. Wenn Fahrzeuge das tun, was der Realität sehr nahe kommt. Wenn du raus gehst aus deinem stressigen Alltag und in deiner Freizeit etwas zauberst, das Erfolg hat. Die Modellbahn hat einen großen Teil zu meiner Selbstfindung beigetragen und stellt immer wieder neue Herausforderungen dar. Wenn du einmal damit anfängst, kommst du nicht mehr davon weg“.Genauso beschreibt es Burkhard Spinnen, welcher in seinem Buch Kleine Philosophie der Passionen den sogenannten ‚Virus‘ Modelleisenbahn rational erklären und für alle Menschen zugänglich machen will. Er beschreibt den ‚Virus‘ als „chronisch und unheilbar“. So sieht es auch Andreas:Ganz oder gar nicht. Man wird nie fertig. Das ist das Schöne, ja. Wir können uns richtig austoben.Vielleicht geht es primär auch gar nicht um die Modellbahn. Vielleicht können wir sie auch als Parabel verstehen, in einer beliebigen Leidenschaft aufzugehen. Erfolge zu sehen, bei dem was getan wird. Sich zu verwirklichen. Ob man nun Miniaturbäume mit künstlichem Grün beflockt oder – wie ich – darüber schreibt: beides sind Arten, seine Leidenschaft auszuleben. Und das ist doch schön.Unser Abend war, trotz aller Emanzipationsempörung, sehr nett! Nach unserer Reise durch die Täler der Landschaften im Modellbahnklub und einem Abschiedszigarettchen mit den Mitgliedern – bei der sich ausgiebigst über diesen „militanten Nichtraucherhype“ ausgelassen wurde – entschwinden wir wieder. Die Seestraße entlang. Geradewegs zum nächsten Späti. Zu viel Cola im Bauch. Ein kühles Bier muss her! Oder doch lieber ne Sahnetorte?Fotos: Arkadij Koscheew
Modellbahnausstellung bei Pro SportEin Bericht von Wolfgang Thun vom 14.12.2012